Interview mit Gaël Gioux, Chief Data and ­Analytics Officer, Groupe Mutuel

Was die Groupe Mutuel mit generativer KI vorhat

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von Rodolphe Koller und Übersetzung: Tanja Mettauer

Gaël Gioux leitet den Bereich Data & Analytics bei der Groupe Mutuel. Im Interview erläutert er die KI- und GenAI-Projekte der Krankenversicherung, ihre organisatorischen und technischen Herausforderungen, die getroffenen Entscheidungen und die Bedeutung ihrer Ausrichtung auf die Unternehmensstrategie.

Gaël Gioux, Chief Data and ­Analytics Officer, Groupe Mutuel. (Source Groupe Mutuel)
Gaël Gioux, Chief Data and ­Analytics Officer, Groupe Mutuel. (Source Groupe Mutuel)

Haben Sie als Chief Data & Analytics Officer aufgrund Ihrer Funktion Projekte rund um künstliche Intelligenz übernommen?

Gaël Gioux: Unsere Anstrengungen im Bereich KI sind in zwei Teile gegliedert: diejenigen, die vom Bereich Technologie (IT) umgesetzt werden, und die des Bereichs Data & Analytics, der bei den Einzelversicherungen angesiedelt ist. Hier haben wir vor etwa drei Jahren mit den ersten KI-Projekten begonnen, darunter mit einem Modell zur Berechnung der Kundenabwanderung (Churn) und zur Anomalieerkennung, während die IT KI-Projekte startete, die stärker auf die Optimierung operativer Prozesse ausgerichtet sind. Die KI entwickelt sich also in beiden Teams weiter, und es versteht sich von selbst, dass wir unser Wissen diesbezüglich austauschen. Den Startschuss für den Einsatz von KI im Bereich Data & Analytics gab der Bedarf der Geschäftsbereiche an erweiterten Analysen. Wir stellten Spezialisten ein und bauten ein Team auf, das heute rund sieben Data Scientists umfasst – von insgesamt etwa 50 Mitarbeitenden im Bereich Data & Analytics.

Versuchen Sie, die KI-Bemühungen, -Kompetenzen und -Werkzeuge zu bündeln? 

Wir verfügen über keine gemeinsame technische Plattform im eigentlichen Sinne, aber wir verwenden die gleichen Werkzeuge. Darüber hinaus gibt es eine bereichsübergreifende Governance, die sicherstellt, dass wir uns nicht verzetteln und dass die gleichen Risikokontroll- und Compliance-Regeln für alle KI-Projekte gelten, unabhängig davon, ob sie von der IT oder von Data & Analytics stammen.

Resultieren Ihre KI-Projekte immer aus einem geschäftlichen Bedarf, oder versuchen Sie auch, diese Technologie im Unternehmen aktiv zu fördern? 

Es gibt mehrere Ansätze. Das Churn-Projekt stammt noch aus der Zeit, bevor wir eine Marketingabteilung hatten. Die Geschäftsleitung wünschte sich damals, besser zu verstehen, aus welchen Gründen Versicherte abwandern. Heute betreffen die Anfragen der Geschäftsbereiche sowohl die Optimierung von Hintergrundprozessen als auch die Transformation auf Kundenseite, wie die verstärkte Personalisierung der Interaktionen mit unseren Versicherten. Parallel dazu führen wir Sondierungsprojekte durch. Basierend auf der Unternehmensstrategie versuchen wir, Geschäftsanforderungen vorauszusehen, ein technisches und datenbasiertes Fundament zu schaffen und an Algorithmen zu arbeiten, die uns einen Nutzen bringen. Wenn wir bloss reagieren und nicht agieren, konzentrieren wir uns lediglich auf die kurzfristigen Bedürfnisse. Es ist wichtig, auch eine langfristige Vision zu haben.

Kommen wir zu konkreten Projekten. Welches Projekt ist für Sie beispielhaft für den Einsatz von KI im operativen Bereich?

Was wir im Bereich der Anomalie- und Betrugserkennung tun, ist sinnbildlich für ein Projekt, das gemeinsam mit der Branche und auf iterative Weise entwickelt wurde. Wir mussten zunächst verstehen, welche Bedürfnisse die Branche wirklich hat – wie sie Anomalien und Betrugsversuche basierend auf Rechnungen erkennt, die sie von Leistungserbringern, Spitälern oder direkt von Versicherten erhält. Wir haben KI eingesetzt, um zunächst ihre Abläufe zu automatisieren, sie grossflächig bereitzustellen und die Effizienz zu steigern. Dann haben wir die Erkennungstechniken erweitert. Wenn die Verantwortlichen sehen, was KI leisten kann, beginnen sie, neue Ideen zu entwickeln: So werden etwa Techniken, die manuell sehr kompliziert umzusetzen wären, plötzlich machbar. Und wenn wir sehen, dass sie einen grossen Einfluss haben, entwickeln wir sie weiter. Die Auswahl an Techniken und algorithmischen Modellen wächst und entwickelt sich daher ständig weiter, je nachdem, welche Ideen aufkommen, welche Fälle auftreten oder wie sich der Markt entwickelt. Ein Beispiel ist die Erkennung von Duplikaten: Da wir jetzt PDFs erhalten, analysieren und vergleichen wir hier andere Elemente als bei gescannten Papierrechnungen.

Arbeiten Sie an Projekten im Bereich der genera­tiven KI? 

Ja, wir entwickeln derzeit einen Chatbot, der das Verständnis der Versicherungsmodelle erleichtert. Das ist einer der Hauptgründe für Anrufe bei unserem Kundenservice, da wir viele Produkte mit sich ändernden Bedingungen haben. Es ist wichtig, sicherzustellen, dass die Antworten aktuell und konsistent sind, und man merkt schnell, dass die Herausforderungen der generativen KI nicht anders sind als bei klassischer KI: Wichtig ist die richtige Governance der zugrundeliegenden Daten.

Verwenden Sie ein RAG-Modell? 

Ja, und von Anfang an ging es darum, zu bestimmen, welche Daten verwendet werden sollen, da wir innerhalb der Organisation viele verschiedene Quellen haben, die nicht immer übereinstimmen. Diese reichen von den Policen selbst über die Wissensbasis des CRM bis hin zu den individuellen Dateien, die von den Callcenter-Mitarbeitenden verwendet werden. Schliesslich haben wir uns entschieden, die Versicherungspolicen als einzig gesicherte Quelle zu nutzen, da sie aus rechtlicher Sicht massgeblich sind. Das Problem ist, dass die Policen schwer verständlich sind, sowohl für Menschen als auch für KI. Es war viel Arbeit nötig, um sie in kleine Teile zu zerlegen und zu indexieren – darin liegt letztlich die Komplexität eines solchen Projekts, mehr als etwa in den Prompts. Wie bei allen KI-Anwendungen hängt alles von den zur Verfügung gestellten Informationen ab: ihrer Kohärenz, ihrer Gültigkeit, ihrer Vertraulichkeit. Ob strukturierte oder unstrukturierte Daten – ein Unternehmen, das auf der Daten­ebene nicht bereit ist, ist auch nicht bereit für KI.

Wie sieht es mit dem Datenschutz aus? Ich nehme an, Sie verwenden ein Modell, das in der Cloud läuft?

Ja, wir verwenden ein OpenAI-Modell über Azure. Aus Gründen der Compliance und des Datenschutzes verarbeitet der Chatbot jedoch keine Informationen zu Versicherungsleistungen. Im Gegensatz zu einem Mitarbeiter, der vielleicht die vergangenen Ausgaben eines Versicherten einsieht, um eine Anfrage zu beantworten, hat der Chatbot keinen Zugriff auf diese Art von Informationen. 

Und die Kosten? GenAI-Dienste können bekanntlich schnell teuer werden.

Wir befinden uns derzeit in der Pilotphase, aber die Frage wird sich natürlich stellen. Wir haben jedoch Möglichkeiten, gegenzusteuern. Beispielsweise testen wir kostengünstigere Modelle. Wie allgemein beim Cloud Computing wissen wir, dass die Nutzung und die Kosten schnell steigen können, wenn man nicht aufpasst. Es ist wichtig, FinOps-Praktiken einzuführen, um diese Entwicklung zu überwachen.

Wie verwaltet man ein solches Tool, damit es wirklich nützlich ist, insbesondere die Interak­tion der Agenten mit dem Chatbot? 

Wie bereits erwähnt, ist zunächst die wichtige Arbeit des Chunking, der Wissensaufteilung, erforderlich, damit die Antworten passend sind. Was die Interaktion mit dem Chatbot betrifft, sind wir davon ausgegangen, dass der Kundenberater eine schnelle Antwort möchte. Diese erhält er zum Beispiel durch die Eingabe von Schlüsselwörtern, ohne unbedingt eine Frage eingeben zu müssen. Wir wollen jedoch flexibel bleiben und experimentieren mit verschiedenen Anwendungsfällen. Potenziell könnte das Tool direkt den Kundinnen und Kunden über die Groupe-Mutuel-App angeboten werden, und dann wären die Fragen wahrscheinlich ganz anders. Der interne Einsatz ermöglicht es uns, die Qualität und Konsistenz der Chatbot-Antworten zu validieren.
Diese verschiedenen Tools steigern die Produktivität, können aber auch Ängste bei Ihren Mitarbeitenden hervorrufen. Wie gehen Sie mit diesen ­Fragen um?
Generell kann KI Ängste auslösen, insbesondere davor, von der KI ersetzt zu werden. Ich glaube aber, dass wir mit den erwähnten KI-Projekten den Mitarbeitenden zeigen können, dass diese Werkzeuge in erster Linie eine Hilfe sind. In diesem Sinne setzen wir sie ein und schulen und begleiten die Mitarbeitenden. Bei der Betrugserkennung fördert die Automatisierung vor allem die Entwicklung neuer Ideen, und im Callcenter kann der Chatbot das Team angesichts der zunehmenden Komplexität der Produkte entlasten. Wir erwarten daher Produktivitäts- und Qualitätsgewinne. Selbst wenn wir irgendwann einen Chatbot auf Kundenseite einführen, werden die Versicherten weiterhin anrufen, und sei es nur, um eine Bestätigung zu erhalten. Das Tool könnte vielleicht die einfachsten Anfragen beantworten und teilweise die Anrufspitzen abfedern.

Wir haben über zwei KI-Projekte gesprochen, die sich auf den Betrieb konzentrieren. Überlegen Sie auch, diese Technologien zu nutzen, um Ihr Angebot weiterzuentwickeln?

Ja, aber eher explorativ, zum Beispiel mit sogenannten Gesundheitspfaden. Als Akteurin im Gesundheitssystem verwalten wir Daten, von denen wir glauben, dass sie potenziell zur Optimierung der Gesundheitspfade dienen könnten, sowohl in Bezug auf Kosten als auch auf die Qualität der Ergebnisse. In Zusammenarbeit mit Spitälern und unter Einsatz von KI könnten wir vielleicht anhand der bisherigen Krankengeschichte vorhersagen, dass ein Patient mit einer Prothese von einer bestimmten Nachbehandlung profitieren würde, und die weiteren Massnahmen entsprechend anpassen. Dies ist Teil des Ansatzes der Groupe Mutuel, ein Gesundheitssystem zu fördern, das mehr auf Qualität als auf Quantität der Pflege basiert. Mehrere Länder experimentieren bereits mit der Value Based Health Care (VBHC), bei der die klinische Qualität und das vom Patienten über die Zeit wahrgenommene Ergebnis nachträglich die Vergütung der Leistung beeinflussen.

Das sind Daten, auf welche die Versicherer keinen Zugriff haben.

Wir haben tatsächlich nur Zugriff auf Abrechnungsdaten und nicht auf eigentliche Gesundheitsdaten. In jedem Fall behandeln wir die Daten nur aggregiert. Solche Entwicklungen können nur im Rahmen eines Gesundheitsökosystems und einer Gemeinschaft von Akteuren stattfinden, die gemeinsam versuchen, die Fälle zu analysieren und die relevantesten Behandlungen zu bestimmen, wobei sie Daten und KI einsetzen. Technisch ist es bereits möglich, dass mehrere Organisationen an Daten arbeiten, ohne diese preiszugeben. Ich glaube wirklich, dass wir als Krankenversicherung eine Rolle in diesem auf Ergebnissen und Daten basierenden Ansatz zur Gesundheitsversorgung spielen können.

Sie betonten, wie wichtig eine gute Daten-­Governance für den Erfolg von KI-Projekten sei. Wie reif ist die Groupe Mutuel in diesem ­Bereich? 

Insgesamt glaube ich, dass wir eine gut kontrollierte Datenlandschaft haben. Wie für andere Finanzdienstleister sind Daten auch für uns Kapital. Betriebsdaten, Rechnungen, Verträge usw. sind besonders gut kontrolliert, da die Aufsichtsbehörden (Finma und BAG) sehr penibel darauf achten, wie wir damit umgehen. Darüber hinaus haben wir Daten, die noch nicht denselben Reifegrad erreicht haben. Im Bereich der Kundenkenntnis entwickeln sich die Bedürfnisse schnell: Man entwickelt eine App und sofort gibt es neue Interaktionsdaten zu verwalten.

Auf welchen technischen Plattformen verwalten Sie Ihre Daten?

Es ist eine hybride Umgebung. Wir haben ein Data Ware­house vor Ort, das gleichzeitig mit unserem ERP auf Oracle-­Basis aufgebaut wurde und das Herzstück der Kontrolle der Betriebsdaten ist. Parallel dazu haben wir in den vergangenen drei Jahren eine Plattform auf Azure konzipiert, die das Data Warehouse ergänzt und uns ermöglicht, KI-Modelle zu entwickeln, mit der Möglichkeit, direkt auf Tools wie Databricks und die Modelle von Unternehmen wie OpenAI zuzugreifen.

Finden Sie leicht Data Scientists, die sich mit den KI-Tools von Azure auskennen? 

Es gibt ständig neue Dienste, und das Kompetenzspektrum wird immer breiter und komplexer. Wir suchen also nicht unbedingt jemanden, der alle gewünschten Fähigkeiten mitbringt, sondern eher jemanden, der das Potenzial hat, sich weiterzuentwickeln. Viele Mitarbeitende im Team waren mit dem Data Warehouse auf Oracle vertraut, aber nicht mit Azure. Es braucht ganz klar eine Grundausbildung in diesem Bereich. Aber danach, meine ich, kann man seine Kompetenzen durch die Anwendung all dieser neuen Dienste entwickeln, indem man Use Cases und Projekte einrichtet. Diese ermöglichen den Themeneinstieg, indem man manchmal externes Wissen einfliessen lässt und die Personen miteinander in Kontakt bringt, um sich weiterzubilden.

Wie entwickeln Sie die fachlichen Kompetenzen Ihrer Data Scientists? Sind sie einem Anwendungs­bereich zugeordnet?

Das ist eine wichtige Frage. Historisch gesehen gibt es wahrscheinlich eine Spezialisierung nach Geschäftsfeld oder Kunden. Dies erklärt sich unter anderem dadurch, dass einige Daten relativ komplex sind und vertiefte Kenntnisse erfordern, insbesondere der Abrechnungsdaten und des TARMED-Systems. Dennoch versuchen wir, bereichsübergreifendes Denken sowohl auf technischer als auch auf geschäftlicher Ebene zu fördern. Wir ermutigen die Spezialistinnen und Spezialisten, an übergreifenden Projekten teilzunehmen, um ihre Fähigkeiten zu diversifizieren. Man kann nicht überall Experte sein, sondern braucht genug Flexibilität, um auf die Vielfalt der Geschäfts- und Technik-Anforderungen zu reagieren.

Vor zehn Jahren hatten IT-Manager Hochkonjunktur, waren aber auch mit hohen Erwartungen rund um den Zwang zur digitalen Transformation konfrontiert. Erleben die Datenverantwortlichen heute etwas Ähnliches mit dem Hype um KI?

Ich glaube, die Erwartungen an KI und Daten bestanden schon vor der generativen KI. Bei der Groupe Mutuel hatten wir bereits eine Datenstrategie, die vom Ausschuss für Innovation des Verwaltungsrats genehmigt wurde. Ich sehe den Hype um generative KI also als Bestätigung. Indem wir den Einsatz generativer KI forcieren, können wir gleichzeitig aufzeigen, wie wichtig die Data-Governance tatsächlich ist, und zwar branchenunabhängig. Dank dieses Bewusstseins klettern Daten auf der Prioritätenliste wieder ganz nach oben.

Sie sprechen von Ihrer Datenstrategie. Was sind die Leitlinien? 

Die Datenstrategie und die KI-Strategie machen nur Sinn, wenn sie mit der Unternehmensstrategie im Einklang stehen. Unsere Unternehmensstrategie ist es, der Gesundheits- und Vorsorgepartner für Privatkunden und Unternehmen zu sein, und das hat Auswirkungen auf die Beziehung und das Kundenerlebnis. Typischerweise müssen Daten und KI zunächst dazu beitragen, den Kunden besser zu verstehen und ihm relevante und personalisierte Interaktionen anzubieten, die seinen Bedürfnissen entsprechen. Dann geht es um die Entwicklung von Produkten und Dienstleistungen, die auf KI und Daten basieren, wie ich es mit den Gesundheitswegen erwähnt habe. Schliesslich gibt es den operativen Aspekt. Auch hier können Daten und KI helfen, unsere Kosten zu optimieren und effizienter auf die Bedürfnisse des Kunden einzugehen.

 

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